„So lange es weh tut, weißt du wenigstens, dass du noch lebst!“

„So lange es weh tut, weißt du wenigstens, dass du noch lebst!“


Es war, als wären die „Flodders“ eingezogen. Ungebetene Gäste, die meinen Körper als ihr neues Zuhause betrachteten. Anfangs nur in einem Zimmer, dass sie nicht mehr verlassen wollten, breiteten sie sich auf und in allem, was ihnen bequem erschien aus, fanden es nett – und luden von Zeit zu Zeit alle ihre Verwandten und Freunde ein. Zuerst zu einem kleinen Familienessen. Dann zu einer größeren Fest und am Ende war es wie eine Dauerparty in Mallorca. Sie tobten herum, berauschten sich an meiner Hilflosigkeit, sie der Tür verweisen zu können, hingen morgens oftmals in den Seilen wie Schnapsleichen, blockierten überall und ohne persönliches Bewusstsein für ihre Taten, mobilisierten sich bis zum Nachmittag und tanzten dann bis spät in die Nacht, manchmal bis zum Morgengrauen alle guten Tänze: sie tanzten Menuett, Salsa und Balett und Tango, manchmal abwechselnd und brav hintereinander, aber immer öfters auch parallel. Nebeneinander ertönten als passende Begleitung scheinbar alle Musikinstrumente dieser Welt, jedes zu seinem Musikstück passend, aber oft gleichzeitig, was zu einem geradezu ohrenbetäubenden Lärm führte.

Schmerzen benutzten meinen Körper als ihr Zuhause. Er schien ihnen besonders gut zu gefallen. Für sie schien mein Körper ein Aufenthaltsort des puren Luxus zu sein, ein Schloss mit angeschlossener Eremitage, inklusive einer Grotte mit Thermen, Rosengarten und Parkanlagen, Stallungen und Tennisplatz. Irgendwann empfand ich so, als würde eine Horde ungebildeten Vandalen, aber ausgestatten mit allem notwendigen Wissen und den erforderlichen Instinkten um feine und grobe Foltermethoden sich ständig gegenseitig übertreffen wollen in den Beweisen ihrer Macht. Vielleicht wollten sie aber auch nur beweisen, dass sie gut sind. So wie jeder Handwerker sich ausbildet und trainiert, wollten sie ihre Ernsthaftigkeit im Tun durch besondere Disziplin beweisen. Sie bemerkten jedoch nicht, dass sie ihr schönes Zuhause dabei immer mehr zerstörten. Wie sture Kinder wollten sie nicht einsehen, dass sie es verlassen müssten, wollten sie nicht riskieren, dass es ihnen über dem Kopf zusammen bricht und sie dann zwangsgeräumt würden, weil das Zuhause abgerissen werden würde.

Ich dachte zurück an Zeiten, in denen Schmerzen sich nur dann zu mir gesellten, wenn es eine ordentliche Einladung an sie gegeben hatte. Ein Sturz mit dem Fahrrad, exzessives Stricken als Dauerbeschäftigung, stundenlanges Schreibmaschinenschreiben, Hinfallen auf dem Eis, Aufklatschen auf der Wasserfläche im Schwimmbad, Aufprall eines Volleyballes, Besuche bei Ärzten, z. B. für HNO oder Zähne, Infektionen im Hals oder am Körper, etc. – hier hatten sie so ihre Einladungskarten erhalten wie zu einem Happening. Der Beginn stand fest und die Aufenthaltszeit von Anfang an begrenzt. Allen Beteiligten war klar, dass sie wieder zu verschwinden hatten, wenn das Ereignis vorüber gezogen wäre. Ein respektables und respektvolles Stelldichein, bei dem niemand ein Erscheinen der Gäste und deren Berechtigung dazu anzweifeln würde. Ebenso verabschiedeten sich die Gäste wieder - dankbar für die erlebte Gastfreundlichkeit und höflich - und auch wie selbstverständlich.

Jetzt war es anders. Jetzt hatten sie das Haus besetzt und dachten überhaupt nicht daran wieder auszuziehen. Manchmal gingen sie vor die Tür. Ich atmete auf und dachte, sie hätten meinen Argumenten endlich Glauben geschenkt oder wären von der ihnen doch sicher auch innewohnenden Vernunft überzeugt worden. Ich lauschte ihren Schritten, hörte wie sie verklangen und glaubte mich sicher. Triumphierte ob meines Verhandlungsgeschicks. Sah auf die Tür, die sich hinter ihnen geschlossen hatte.

Blieb es eine Weile still, drehte ich mich erleichtert um und besah mir meinen Körper, der doch mein Zuhause war. Die blauen Flecken, die Wunden die lange nicht heilen wollten, die Haltung meines Körpers kam mir manchmal reichlich verkrümmt vor, die Erscheinung insgesamt deformiert. Ich duschte zum fünften Mal an manchen Tagen, weil mir mein Geruch nicht gefiel und putzte ebenso oft die Zähne, weil der schale Geschmack auf der Zunge immer wieder kehrte. Ich wollte gut zu meinem Körper sein, damit er sich schnell erholte, mir selber wieder und auch für andere attraktiv sein sollte. So kaufte ich so manchen Cremetopf und Tube mit Salben die herrlich dufteten. Seltsam, war es nicht erst letzte Woche, dass ich die guten Düfte gar nicht mehr wahrnehmen konnte? Im Gegenteil mir von jeglichem Aroma schlecht wurde bis zum Brechreiz, manchmal auch Erstickungsgefühle mich am Kragen gepackt hatten. Jetzt aber wieder. Ich freute mich. Ach wie herrlich, mein Körper gehörte wieder zu mir. Ja, ich wollte gut zu ihm sein. Und er wollte auch wieder. Rief mich laut um Aufgaben, danach, gebraucht zu werden. Wollte mir gefallen, mir wieder Freude bereiten.

Ich tat ihm und mir den Gefallen, verteilte die Aufgaben und wucherte mit meiner Freude über meine Selbstbestimmung. Das Telefon läutete: „Kannst du das noch machen? Willst du dich darum noch kümmern? Hast du noch für dieses? Jenes sollte dringend erledigt werden, blieb aber liegen, möchtest du vielleicht ...?“ „XY hat mich im Stich gelassen, seine Vereinbarungen nicht eingehalten. Ach was bin ich froh, dass ich mich auf dich verlassen kann ...“ „Ja!“, lachte ich. „Ja!“, rief ich. „Ja.“, sagte ich „Ja,“ seufzte ich. „Ja.“ und fühlte mich richtig gut dabei und wurde doch immer leiser, denn ich spürte, wie sie die Flodders wieder auf dem Weg zu mir waren. Unversehens höflich läuteten sie an der Tür. Baten darum einen kleinen Besuch machen zu dürfen, es wäre doch so schön bei mir und sie würden diesmal auch gewiss nichts kaputt machen und auch sicher wie es sich für anständige Besucher gehört wieder gehen. Wie könnte man jemanden abweisen, der so höflich ist? Und wirklich, sie waren ordentliche Leute geworden, wie versprochen gingen Sie wieder.

Ich erwachte von einem heftigen Knall. Noch halb im Tiefschlaf tapste ich in den Flur. Ich rieb mir die Augen und sah die Tür eingetreten darin liegen. Verständnislos guckte ich in das Loch, dass der Maurer gelassen hatte. Grinsend leuchteten mir die Horde der Flodders grell mit Taschenlampen ins Gesicht. Jetzt war er wieder da. Der Kopfschmerz. Der Ohrenschmerz. Die Gliederschmerzen. Es würgte mich die Übelkeit. Ein Drehschwindel bettete mich liebevoll auf meine Matratze. „Wir ahnten doch, dass wir hier gebraucht würden.“ Überzeugt von ihrer Wichtigkeit nickten sie einander zu und lächelten mich an. So saßen die Flodders um mich herum, übernahmen die Kontrolle über meinen Körper und mir somit aus der Hand.

Auszug aus dem Kapitel: „So lange es weh tut, weißt du wenigstens, dass du noch lebst!“
aus dem Buch „Da hast du doch wenigstens was, was du deinen Enkeln mal erzählen kannst.“