"Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider Deinen Schüler!"

"Karl hört Wörter nur unsicher auf Laute ab. Er kann den Lauten nur teilweise die entsprechenden Buchstaben zuordnen. Nur mit Unterstützung kann er lauttreue Wörter verschriften. Verstanden hat er den Auf- und Abbau von Wörtern. Er benötigt aber beim Erlesen einzelner Wörter immer wieder den Zuspruch durch die Lehrerin." Dass sich unsere UnterrichtsvollzugsbeamtInnen nicht schämen, so etwas einem Kind der 1.Klasse ins erste Zeugnis seines Lebens zu schreiben! Mit derart niveaulosem Schulamtsdeutsch schlägt man jede Lernlust in die Flucht, verschreckt die jungen, gerade sich entfalten wollenden Talente, bringt die Eltern zu Recht gegen die Schule auf und stellt die Weichen von "normal" auf "katastrophale Entwicklung".

Der Geist, der aus solchem Text spricht, zeugt von der Unsensibilität eines Lehrplanvollstreckungsbeamten, der immer noch in pubertärer Manier seine Fleißaufgaben für Fleißbildchen und zur Vermeidung von Tadel macht. Da fehlt jegliche Wahrnehmung des Lebens, keinFragen nach den originalen Kräften, kein Interesse an der realen Situation der Talente, alles nur ausgerichtet auf den stumpfsinnigen Vollzug amtlicher Vorgaben! Letztlich nichts weiter als der Vollzugsbericht eines Büttels der Staatsgewalt an die vorgesetzte Dienststelle, in Kopie für das Vollzugsobjekt. Es ist grauenhaft, wenn man bedenkt, dass in diesem tödlich sterilen Geist bereits ein halbes Jahr auf die Kinder eingewirkt wurde und dass dies nahtlos so fortgeführt wird.

"Der Herr Kultusminister hört Wörter nur unsicher auf Laute ab. Er kann den Lauten nur teilweise die entsprechenden Buchstaben zuordnen. Nur mit Unterstützung kann er lauttreue Wörter verschriften. Verstanden hat er den Auf- und Abbau von Wörtern. Er benötigt aber beim Erlesen einzelner Wörter immer wieder den Zuspruch durch die Lehrerin." - wer würde es wagen, so etwas in der Hierarchie nach oben zu schreiben?
Ein ZEUGNIS sollte kein feindlicher Unterdrückungsakt sein sondern der kompetente Lehrer hat Zeugnis zu geben, was er mit den Talenten des Kindes erreicht hat.
In der neuen Ich-kann-Schule lässt sich der Lehrer nicht zum Richter und Aburteiler missbrauchen sondern stellt sich verantwortlich auf die Seite dessen, was er mit dem Kind erreicht hat.
All dies mit Interesse an und in Respekt vor den Talenten, besonders denen, die es zu entwickeln gilt.

Mit dem Zeugnisschreiben stiehlt man sich offenbar in der Du-musst-Schule aus der Verantwortung und schiebt den Schwarzen Peter an die Eltern weiter:
"Wir Profis konnten es nicht besser, nun macht Ihr Eltern das Kind schulgerechter! Wir können es nicht."
Sagen unsere "Schulzeugnisse" nicht sehr viel Gravierenderes über den Geber aus als über den Nehmenmüsser?

"Zeugen" kommt von "ziehen".
Seinen Sinn kann ein Zeugnis nicht durch Druck erfüllen.
Nicht niederdrücken sondern höherziehen, das ist der Sinn eines Zeugnisses, das diesen Namen verdient.
Ein Zeugnis ist eine Antwort, die SOG-Wirkung haben sollte für eine gute Entwicklung.
Als Druckmittel ist das Zeugnis missbraucht.
Da Schule und Pädagogik heute offenbar von SOG-Wirkung keinen blassen Schimmer haben, müssen sie Zeugnis geben überhaupt erst lernen.
Nicht die Kinder: Schule und Pädagogik können es nicht.
Schule und Pädagogik bleiben die Antwort auf die konkreten Fragen des Lebens schuldig mit ihren Papierzeugnissen.
Da herrscht dringender Lernbedarf und sie merken es noch nicht einmal!
Es wird Zeit, einzufordern, dass nicht nur Zeugnis geschrieben sondern wirklich und wahrhaftig gegeben wird.

Ich grüße freundlich.

Franz Josef Neffe